Was bedeutet geschlechtliche Vielfalt für die körperliche Entwicklung?

Was bedeutet geschlechtliche Vielfalt für die körperliche Entwicklung?

Der Sonderforschungsbereich 1665 („Sexdiversity–Determinanten, Bedeutungen und Implikationen der Geschlechtervielfalt in soziokulturellen, medizinischen und biologischen Kontexten“) beschäftigt sich mit der Hypothese, dass die Entwicklung der körperlichen Geschlechtsmerkmale auf verschiedenen Ebenen – Zellebene, Organe und in der allgemeinen Körperlichkeit – verläuft und durch unterschiedliche Prozesse gesteuert wird. Unter Berücksichtigung dieser Ebenen und Prozesse hat jedes Individuum eine eigene geschlechtliche Ausprägung, die über die allgemeine Binarität hinausgeht. In diesem Blogbeitrag werden wir diese Hypothese aus biomedizinischer Sicht erläutern, die wissenschaftlichen Grundlagen dazu darstellen und auf relevante Literatur verweisen, um die Argumentation zu untermauern. Damit wird deutlich, dass es keine einfachen Erklärungen für die körperlichen Merkmale von Geschlecht gibt. Vielmehr hat die Idee eines ‚personalisierten Geschlechts‘ Potenzial sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die medizinische Versorgung.

Einleitung: Geschlechtsentwicklung ist komplex und mehrdimensional, auch über die Zeit

Bei der Entstehung von höheren Tieren und Menschen werden die Weichen für die Geschlechtsentwicklung während der Embryonalzeit gestellt. Beim Menschen also etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche. Aber auch nach der Geburt erfahren wir ständig weitere Veränderungen, zum Beispiel durch die Pubertät oder während des Alterns, sodass die Geschlechtsentwicklung sich über die gesamte Lebensspanne zieht. Traditionell wurde angenommen, dass sämtliche Aspekte der Geschlechtsentwicklung weitgehend synchron und gemeinschaftlich gesteuert ablaufen.

Neuere Forschung zeigt jedoch, dass die Entwicklung der körperlichen Geschlechtsmerkmale auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich gesteuert und zeitlich voneinander entkoppelt sein kann. Die Pubertät tritt zum Beispiel von Mensch zu Mensch unterschiedlich ein und dauert verschieden lang. Gleiches gilt für das Eintreten der Wechseljahre (Menopause) oder das Nachlassen der Hodenfunktion. Bislang ist wenig bekannt über die individuellen Determinanten, die diese Prozesse steuern und verändern können.

Der SFB 1665 geht davon aus, dass sich geschlechtliche Differenzierung auf Zellebene, Organebene und im Körper als Ganzes je nach Entwicklungsphase und Merkmal individuell vollzieht. Dies kann die Entstehung und Ausprägung von Krankheiten beeinflussen, weshalb zelluläre Prozesse genauer untersucht und neu eingeordnet werden müssen.

Entwicklung der Geschlechtsmerkmale auf Zellebene

Auf der Zellebene erfolgt die Geschlechtsentwicklung durch die Aktivierung von Genen. Zunächst entwickeln sich die Embryonen im Mutterleib gleich, auch wenn unterschiedliche Chromosomensätze – nämlich typischerweise 46,XY und 46,XX – vorliegen. Ein wesentlicher Entwicklungsschritt dieser frühen Embryonalphase ist die Entstehung der Keimdrüsenanlage, die die Grundlage für Eierstöcke und Hoden darstellt. In der Keimdrüsenanlage kommt es zu einer unterschiedlichen Entwicklung, je nachdem welche Gene wie stark an- oder abgeschaltet werden, sodass die Zellen sich typischerweise als Hoden- oder Eierstockgewebe differenzieren.

Wir wissen heute, dass die Gesamtheit der Gene zwischen den Geschlechtern sehr ähnlich ist, aber gerade das An- und Abschalten des Ablesens (in der Biologie als Expression bezeichnet) den wesentlichen Einfluss hat, welche Entwicklung erfolgt. Dies ist oftmals vom Vorliegen einer XX- oder XY-Konstellation beeinflusst, aber eben nicht nur. Die XX- und XY-Konstellation der Chromosomen gibt Anfangssignale in dieser Abfolge, die dann auch viele andere Gene auf anderen Chromosomen mit einbezieht. Es existieren zellinterne Regulationsmechanismen sowie Verstärkungs- und Abschwächungsmechanismen, die die zeitliche Abfolge beeinflussen. Hoden und Eierstöcke haben also eine gemeinsame Grundlage und sind damit gar nicht so verschieden. Im Rahmen dieser Entwicklung kommt es in diesen Keimdrüsenanlagen zur Entstehung hormonproduzierender Zellen, die dann die weitere Entwicklung des Individuums in seiner Geschlechtlichkeit beeinflussen.

 

Abb. 1 Aus der zunächst für alle Geschlechter gleichen Keimdrüsenanlage entstehen typischerweise Ovar (Eierstock) und Hoden, die verschiedene Zellen aus einem Ursprung beinhalten. Diese Zellen sind teilweise für die Produktion von Geschlechtshormonen verantwortlich. (gezeichnet von Dr. M. Hiort)

Wir nehmen heute an, dass die hormonproduzierenden Zellen insbesondere des Hodengewebes wesentliche weitere Veränderungen des Körpers vornehmen. Dies betrifft die Zellen der Genitalregion, also dem Entstehungsort der Geschlechtsorgane Penis und Klitoris sowie der Scheide, indem dort Gene für Wachstumsfaktoren etc. angeschaltet werden, sodass die Unterschiede im Aussehen des Genitals entstehen. Die Ursprünge von Penis und Klitoris sowie den großen Labien und Hodensack sind gleich; durch die Hormone werden die Zellen aber eben grundsätzlich geschlechtlich programmiert. Dies konnten Holterhus und Kolleg*innen bereits vor vielen Jahren (2003) durch Untersuchungen von Zellen aus der Genitalhaut aufzeigen. Die Zellen zeigen eine geschlechtliche Prägung, die auf der Basis der Hormonwirkung entstanden ist. Dabei ist es unwichtig, wo genau die Hormone produziert wurden, und auch, welcher Chromosomensatz tatsächlich vorliegt. Diese geschlechtliche Prägung bleibt bestehen und gibt damit einen Organisationsrahmen für den Körper und dessen Geschlechtsorgane vor, der weitgehend unabänderlich scheint. Denn die Zellen lassen sich später nur bedingt „um- oder reprogrammieren“ (siehe auch Hiort 2013). Der Grundsatz dieser geschlechtlichen Programmierung bleibt also lebenslang bestehen.

In Zellen anderer Organe ist ebenfalls eine solche geschlechtliche Prägung vorhanden, aber sie ist von Organsystem zu Organsystem wohl unterschiedlich. Holterhus und Kolleg*innen (2009) konnten auch zeigen, dass Blutzellen (denen wir doch zunächst gar kein Geschlecht zuordnen würden) eine geschlechtliche Genexpression aufweisen, die ebenfalls hormonell festgelegt zu sein scheint.

Auswirkungen von geschlechtlicher Programmierung auf Organebene

Wir wissen heutzutage, dass es eine geschlechtliche Prägung fast aller Körperzellen gibt. Oliva und Kolleg*innen (2020) haben Daten zusammengefügt, die das An- und Abschalten von Genen in unterschiedlichsten Organen des Körpers untersucht hatten, und dabei in allen Zellen einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gefunden. Diese auf Binarität der Geschlechter fußende Betrachtung liefert uns aber keine umfassende Erklärung und keine klare Zuordnung für die variablen Ausprägungen körperlicher geschlechtlicher Eigenschaften. Genau hier setzt der SFB 1665 an: Er sucht nach Erklärungen jenseits binärer Kategorien und versucht, geschlechtliche Unterschiede individueller einzuordnen.

Ähnliche Denkweisen gibt es auch für die anderen Erkrankungen. So zum Beispiel für die koronare Herzerkrankung, die mit Herzinfarkten verbunden wird. Auch hier scheinen es bestimmte Hormonmuster zu sein, die das Risikoprofil einer Person mit beeinflussen. Wir vermuten, dass das Immunsystem geschlechtlich geprägt ist und Entzündungsprozesse – etwa bei Adipositas, Atherosklerose oder rheumatischen Erkrankungen – stärker durch hormonelle Einflüsse und individuelle Hormonmuster bestimmt werden. Dies eröffnet neue Forschungsfelder für den SFB.

Von Körperlichkeit zu Krankheitsrisiken

Schließlich ist die allgemeine Körperlichkeit – Merkmale wie Körpergröße, Muskelmasse, Körperform – ebenfalls von Faktoren der Geschlechtsentwicklung abhängig, aber diese Prozesse verlaufen meist über wesentlich längere Zeiträume und sind auch stärker durch äußere Faktoren beeinflusst. Die Pubertät markiert hier einen entscheidenden Wendepunkt, da hormonelle Veränderungen nicht nur die Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale beeinflussen, sondern auch zu einer oftmals deutlich unterschiedlichen Ausprägung anderer körperlicher Merkmale wie Körpergröße und Körperform führen. Nach der initialen Organisation im Mutterleib entsteht mit der Pubertät und Reifung also eine zweite Phase der geschlechtlichen Entwicklung durch Hormone oder auch Wirkstoffe von außen.

Aus der Medizin wissen wir, dass Krankheiten von geschlechtlichen Faktoren abhängen können. Diese sind für Erkrankungen wie Brust- oder Prostatakrebs gut bekannt. Aber auch andere Erkrankungen wie die Alzheimer-Erkrankung oder Lebererkrankungen weisen geschlechtliche Unterschiede auf. Auch hier wird meist eine Differenzierung nur zwischen den typischen Geschlechtskategorien vorgenommen, ohne dass die genauen biomedizinischen Hintergründe beleuchtet werden.

Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist die Adipositas (Fettleibigkeit). Wir wissen, dass sich Adipositas bei Männern und Frauen unterschiedlich entwickelt und dass bestimmte Formen – etwa einer spezifischen Bauchfettverteilung – mit einem erhöhten Krankheitsrisiko verbunden sein können. Interessanterweise tritt die typischerweise bei Männern gehäuft vorhandene Bauchfettverteilung auch bei einigen Frauen auf und kann dort ebenfalls mit einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit einhergehen. Welche Faktoren steuern die Fettverteilung geschlechtlich und geschlechtsübergreifend?

Zwei Projekte des SFB untersuchen, wie die Menge an Geschlechtshormonen und deren Verteilung die Fettverteilung beeinflusst und inwieweit Fettgewebe selbst zu einer eigenen Hormonproduktion führt. Adipositas sollte daher eher nach Hormonmustern als nach zugewiesenem Geschlecht betrachtet werden, da diese zwar geschlechtlich geprägt, aber individuell unterschiedlich auftreten können. So ließe sich ein ‚personalisiertes Geschlecht‘ definieren, das Therapieansätze verbessern könnte. Beispielsweise zeigen Frauen mit Adipositas teils erhöhte Androgenspiegel, Männer hingegen höhere Östrogenspiegel, wobei auch Fettzellen selbst zur Hormonproduktion beitragen können.

Weitere Beispiele für geschlechtliche Unterschiede sind Muskelmasse oder Fettverteilung, die während der Pubertät durch hormonelle Steuerung, genetische Faktoren und Umweltbedingungen geprägt werden. Diese Entwicklungen setzen sich über die körperliche Reifung hinaus fort und unterscheiden sich in Geschwindigkeit, Ausprägung und biologischer Grundlage. Alterungsprozesse und zeitliche Dynamik verändern somit auch die geschlechtliche Prägung unserer Körperzellen. Dabei ist erkennbar, dass einige Merkmale relativ stabil zu denken sind – etwa chromosomale Grundlagen –, während viele andere Merkmale dynamisch, individuell unterschiedlich und durch Umwelt- und Hormonfaktoren beeinflussbar sind.

Fazit: Dynamik und Vielfalt geschlechtlicher Merkmale

Für das Verständnis von Krankheitsentstehung und -verlauf ist es wichtig, nicht nur genetische Faktoren, sondern auch dynamische Prozesse zu berücksichtigen. Hormonelle, zelluläre und Umweltmechanismen beeinflussen die geschlechtliche Ausprägung, deren genaue Zusammenhänge und Interaktionen jedoch noch weitgehend unerforscht sind. Geschlecht ist somit kein statisches Merkmal, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus festen und veränderlichen Faktoren. Diese Vielfalt zeigt sich auf allen Ebenen – von Zellen bis zum gesamten Organismus – und prägt körperliche Merkmale, hormonelle Profile sowie genetische Grundlagen, wodurch individuelle Ausprägungen und fließende Übergänge möglich werden. Traditionelle binäre Kategorien erfassen diese Dynamik nur unzureichend. Das Konzept des personalisierten Geschlechts, als Teilbereich der personalisierten Medizin, kann zu einer besseren Gesundheitsversorgung für alle Menschen führen.

Olaf Hiort

 

Literatur:

Hiort O. The differential role of androgens in early human sex development. BMC Med. 2013 Jun 24;11:152. doi: 10.1186/1741-7015-11-152. PMID: 23800242; PMCID: PMC3706224.

Holterhus PM, Hiort O, Demeter J, Brown PO, Brooks JD. Differential gene-expression patterns in genital fibroblasts of normal males and 46,XY females with androgen insensitivity syndrome: evidence for early programming involving the androgen receptor. Genome Biol. 2003;4(6):R37. doi: 10.1186/gb-2003-4-6-r37. Epub 2003 May 15. PMID: 12801411; PMCID: PMC193616.

Holterhus PM, Bebermeier JH, Werner R, Demeter J, Richter-Unruh A, Cario G, Appari M, Siebert R, Riepe F, Brooks JD, Hiort O. Disorders of sex development expose transcriptional autonomy of genetic sex and androgen-programmed hormonal sex in human blood leukocytes. BMC Genomics. 2009 Jul 1;10:292. doi: 10.1186/1471-2164-10-292. PMID: 19570224; PMCID: PMC2713997.

Oliva M, Muñoz-Aguirre M, Kim-Hellmuth S, Wucher V, Gewirtz ADH, Cotter DJ, Parsana P, Kasela S, Balliu B, Viñuela A, Castel SE, Mohammadi P, Aguet F, Zou Y, Khramtsova EA, Skol AD, Garrido-Martín D, Reverter F, Brown A, Evans P, Gamazon ER, Payne A, Bonazzola R, Barbeira AN, Hamel AR, Martinez-Perez A, Soria JM, GTEx Consortium, Pierce BL, Stephens M, Eskin E, Dermitzakis ET, Segrè AV, Im HK, Engelhardt BE, Ardlie KG, Montgomery SB, Battle AJ, Lappalainen T, Guigó R, Stranger BE. The impact of sex on gene expression across human tissues. Science. 2020 Sep 11;369(6509):eaba3066. doi: 10.1126/science.aba3066. PMID: 32913072; PMCID: PMC8136152.

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