Das ist in der Tat möglich. Geschlechtsunterschiede treten nämlich nicht nur auf der Ebene der Chromosomen (XX, XY, XXY, XO usw.) und der DNA auf, sondern auch auf der Ebene der Genexpression. In jeder einzelnen Zelle des Körpers sind immer nur bestimmte Gene aktiv, während andere Gene stillgestellt sind. Die Gen-Aktivität sieht man daran, ob von einem Gen RNA-Moleküle hergestellt worden sind. Man nennt die Sets von RNA-Molekülen, die für die verschiedenen Zelltypen und Gewebe in einem Organismus typisch sind, Gen-Expressionsmuster.
Gen-Expressionsmuster können Geschlechtsunterschiede aufweisen, die manchmal mit dem chromosomalen Geschlecht einhergehen, manchmal aber auch nicht. Das weiß man, seit es möglich ist, die Gen-Expressionsmuster einer einzelnen Zelle eines Gewebes zu messen. Es gibt also typisch „weibliche” Gen-Expressionsmuster und typisch „männliche” bei Zellen eines bestimmten Gewebes, eben zum Beispiel bei Fettzellen.
Außerdem produziert das Fettgewebe sowohl bei Frauen als auch bei Männern bestimmte Steroidhormone, die sogenannten Androgene und Östrogene. Manche Frauen produzieren im Fettgewebe vermehrt typisch „männliche“ Hormone wie Testosteron und Männer vermehrt typisch „weibliche“ Hormone wie Östrogen. Häufig ist dieser „Switch“ der Fettzellen mit Adipositas (chronische Fettleibigkeit) assoziiert. Aber dies ist nicht immer der Fall und warum dieser Wechsel überhaupt stattfindet, ist aktuell unklar. Auf jeden Fall kann dies Auswirkungen auf die Gesundheit des Herz-Kreislauf-Systems haben.
Moderne Einzel-Zellanalysen (Single Cell RNA Analysen) zeigen nicht nur, dass innerhalb eines Organismus Zellen Unterschiede in ihren Expressionsmustern aufweisen, sondern es lassen sich auch diese geschlechtsspezifischen Unterschiede nachweisen. Die meisten Zellen bei Männern und Frauen zeigen zwar ähnliche Expressionsmuster, aber es gibt auch sehr spezifische Unterschiede zum Beispiel in Immunzellen im Gehirn, in Fettzellen oder am Herzen.
Das Überraschende ist, dass sich diese Unterschiede nicht alle durch das chromosomale Geschlecht erklären lassen. Es kann also sein, dass ein Mensch, der chromosomal ein Mann ist, weibliche Gen-Expressionsmuster in seinen Fettzellen hat, während seine Herzzellen eher männlich sind.
Die vorgefundenen Expressionsmuster weisen weiterhin darauf hin, dass die zellulären Unterschiede nicht rein binär zu verstehen sind und dass sie sich sogar im Laufe des Lebens durch hormonelle Veränderungen oder während des Wachstums verschieben können.
Um Patientinnen und Patienten optimal versorgen zu können, ist es wichtig, diese zellulären Unterschiede zu verstehen und im Zweifelsfall in die Gestaltung der Therapie mit einzubeziehen.
Zugleich gilt es darauf hinzuweisen, dass die binären Einordnungen von Gewebe in „weiblich“ und „männlich“ vereinfachende, nachträglich vorgenommene Kategorisierungen von Wissenschaftler*innen sind. Es existieren verschiedene Fettzellen-Typen mit gewissen Überschneidungen und eventuell wäre es zukünftig angebracht, weitere Kategorien zu nutzen.
Wer das in Originalpublikationen der Forschung nachlesen möchte, findet das hier Paper zu Mäusen und hier das Paper für Menschen.
Im Sonderforschungsbereich „Sexdiversity“ an der Universität Lübeck werden ähnliche Forschungen im Projekt M01 (Die Einzelzell-Transkriptions- und Chromatinlandschaft der Geschlechtsdifferenzierung und die Rolle des Androgen-Signalwegs in extragenitalen somatischen Geweben), geleitet von Malte Spielmann und Paul Martin Holterhus, durchgeführt. Das Projekt M01 wurde unter anderem in einem Beitrag des NDR Schleswig-Holstein Magazins vorgestellt.
Christoph Rehmann-Sutter in Zusammenarbeit mit Malte Spielmann und Isabel Frielitz-Wagner