Amphiprion ocellaris (Clown-Anemonenfisch) in Papua New Guinea (Copyright: Nick Hobgood)
Das biologische Geschlecht ist ein komplexes und vielgestaltiges Phänomen. Die Antwort auf die obige Frage, es gebe genau zwei biologische Geschlechter, weil es zwei verschiedene Keimzellen – Eizellen und Spermien – gibt, ist ungenügend. Die Natur zeigt nämlich eine erstaunliche Vielfalt an Sexualsystemen, die mit einem binären Ansatz nicht zu fassen sind.
Auf die Frage, wie viele biologische Geschlechter existieren, wird oft eine einfache Antwort gegeben: Es gebe zwei. Das sei deshalb so, weil es ja zwei verschiedene Keimzellen gebe, nämlich Spermien und Eizellen, die bei der sexuellen Reproduktion miteinander fusionieren. Männliche Keimzellen sind klein und typischerweise beweglich, sie werden von Männchen produziert. Weibliche Keimzellen sind größer und typischerweise weniger beweglich, sie werden von Weibchen produziert. Wenn wir aber die biologischen Befunde über das Phänomen der Geschlechtlichkeit genauer ansehen und auch die aktuelle Forschung dazu berücksichtigen, zeigen sich Probleme mit dieser Antwort. In einem Wort: Sie ist zu einfach.
Das erste Problem mit der einfachen Antwort ist, dass sie von nur einem einzigen Sexualsystem ausgeht, nämlich dem der Getrenntgeschlechtlichkeit. Diese liegt vor, wenn es in einer Art nur zwei Geschlechter gibt und die Individuen entweder weiblich oder männlich sind. Viele Tierarten sind tatsächlich getrenntgeschlechtlich; man spricht bei Tieren von Gonochorismus. Einige Pflanzenarten sind das tatsächlich auch; man spricht dann von Diözie.
Eine Vielzahl von Sexualsystemen
In der Natur gibt es aber – abgesehen von der ungeschlechtlichen Vermehrung wie der Parthenogenese oder der Sprossung – eine Reihe weiterer Sexualsysteme: Die Keimzellen und ihre Funktionen können in den Individuen einer Spezies unterschiedlich verteilt sein. Zum Beispiel sind viele der uns allen bekannten Pflanzenarten Hermaphroditen. Das heißt die Individuen können sowohl männliche als auch weibliche Keimzellen hervorbringen. Ein Teil dieser Pflanzen hat kosexuelle Blüten, d.h. weibliche und männliche Sexualorgane stehen zusammen in einer Blüte. Andere hermaphroditische Pflanzen haben getrenntgeschlechtliche Blüten, d.h. männliche und weibliche Blüten stehen nebeneinander an der gleichen Pflanze. Ebenso leben viele Fischarten hermaphroditisch. Wie können wir aber ein Geschlecht bezeichnen, dass beide Arten von Keimzellen hervorbringt? Ist Hermaphroditismus eine dritte Geschlechtskategorie?
Morphologie und das früheste bekannte Herbarexemplar von Solanum plastisexum. A: Blütenstiel mit einer einzigen männlichen Blüte im Jahr 2016 B: Reife Frucht C: Aufrechte Blütenstände mit männlichen Blüten im Jahr 2018 D: Exemplar, gesammelt von P. Latz im Jahr 1974 und kommentiert von D. Symon mit einer Anmerkung, die seine Verwirrung über die Fortpflanzungsmorphologie des Exemplars angibt (männliche Rhachis sichtbar über der Frucht ganz links). Copyright: Angela J. McDonnell et al. PhytoKeys: doi:10.3897/phytokeys.124.33526.
Es geht aber noch wesentlich weiter. Einige Arten haben sowohl hermaphroditische als auch männliche und weibliche Individuen. Bei einigen Arten wechseln die Individuen im Laufe ihres Lebens das Geschlecht. Beispielsweise die Clownfische (Amphiprioninae) sind sequenzielle Hermaphroditen. Sie beginnen ihr Leben als Männchen und werden im reiferen Alter größtenteils zu Weibchen. Eine neu gefundene wilde Tomatenart, Solanum plastisexum, lebt geschlechtsfluid: Individuen können zwischen kosexuellen Blüten und männlichen Blüten wechseln, ihr Geschlecht ist nicht von vornherein festgelegt.
Es wurde 2014 eine systematische Sammlung der bis dahin vorliegenden Daten über Sexualsysteme bei etwa 25 000 Arten angefertigt. Sie unterscheidet zwischen 11 verschiedenen Sexualsystemen. Diese Liste ist nicht abgeschlossen und die Datenbasis wird im Moment erweitert. Auch deshalb klappt es nicht mit der einfachen Antwort auf die Frage, wie viele biologische Geschlechter es gibt.
Die Begründung, es gebe nur zwei biologische Geschlechter, weil die sexuelle Vermehrung auf der Fusion von zwei Typen von Keimzellen beruht, ist außerdem logisch zirkulär. Sie nimmt nur die Beispiele als Beweise, welche die zu beweisende Behauptung bestätigen: eben die Sexualsysteme, die auf der Fusion von zwei verschieden großen Keimzellen beruhen. Die Biologie spricht von Anisogamie. Einige Arten leben aber isogam (d.h. Form und Größe aller Keimzellen sind gleich), z.B. einige Pilze, Algen und Amöben. Die Isogamie erlaubt eine große Anzahl von Befruchtungstypen („mating types“), die artspezifisch unterschiedlich festgelegt sind. In der Evolutionsbiologie wird heute angenommen, dass auch die anisogamen Arten (wie die Tiere und die Menschen) isogame Vorfahren haben.
Entscheidend sind die Betrachtungsebenen
Es kommt auch darauf an, auf welcher Ebene und in welchem Erklärkontext man das biologische Geschlecht oder das „Körpergeschlecht“ definieren möchte. Worauf blickt man eigentlich? Geht es um die Individuen einer Art, um ihren Lebenszyklus oder um eine bestimmte Fortpflanzungsstrategie von Arten? Oder schaut man all das nicht an und achtet nur auf die Keimzellen, die zur Befruchtung führen können, und weist auf die banale Tatsache hin, dass es doch immer zwei Zellen sind, die fusionieren?
Schaut man den Körper der Individuen genauer an, die zu einer Zeit ihres Lebens männliche und/oder weibliche Keimzellen hervorbringen können, ergibt sich ein komplexes Bild. Man kann den geschlechtlichen Zustand von Individuen in mindestens vier Dimensionen beschreiben:
Genetik und Epigenetik,
Hormone und entwicklungsrelevante Signale,
Morphologie, Entwicklung und Organbildung, sowie
das Verhalten.
Zur genauen Beschreibung der Gegebenheiten auf diesen unterschiedlichen Ebenen ist ein Schema mit zwei möglichen Zuständen nicht zielführend. Es gibt vielmehr Gradienten, genetische Netzwerke, ein Zusammenwirken von inneren und äußeren Faktoren, Übergänge, Gleichgewichte, Verläufe usw. Und es gibt in der Anatomie immer sowohl häufige Formen als auch seltenere Varianten. Körpergeschlecht ist demnach auch aus biologischer Sicht – dies nicht nur bei Menschen – ein überaus komplexes Forschungsthema, wofür die Annahme einer durchgängigen Binarität von Geschlecht und eine Reduktion auf Keimzellen und Fortpflanzung hinderlich ist.
Biologie des Menschen
Auch mit Blick auf den Menschen liefert die aktuelle Forschung zu biologischem Geschlecht neue Perspektiven. So ist durch vertiefte Einsichten in eine Vielfalt prähistorischer Geschlechterordnungen eine evolutionsbiologische Rückführung von Geschlechtereigenschaften auf einfache binär organisierte Rollenverhältnisse in der Steinzeit – Stichwort: Sammlerinnen und Jäger – nicht mehr möglich. Und die Entwicklungsgenetik verdeutlicht: Gene fungieren nicht einfach als biologische Befehlszentralen im Körper, sondern als Vermittler zwischen Natur und gesellschaftlicher Umwelt. Denn die Genaktivitäten (teilweise in physiologisch sensiblen Phasen) können durch einen spezifischen Gebrauchs- und Reizkontext angeregt oder gestoppt werden. Ein menschlicher Geschlechtskörper ist deswegen nicht einfach durch eine evolutiv entstandene genetische Bauanleitung in allen Einzelheiten punktgenau festgelegt, sondern er weist vielmehr innerhalb eines genetisch gewährten Spielraums eine umweltbedingte phänotypische Gestaltungsflexibilität auf. Man spricht von „Reaktionsnormen“.
Zusätzlich treten auch in menschlichen Genomen neben den Konstellationen XX und XY eine Reihe weiterer geschlechtsrelevanter Chromosomen-Varianten in Erscheinung, die intergeschlechtliche Ausprägungen bedingen können. In ähnlicher Weise führt das neurobiologische Konzept des plastischen Gehirns (weitere Informationen hier und hier) dazu, dass das Gehirn nicht einfach statisch als angeborene Basis konkreter Befähigungen und Verhaltensmustern aufzufassen ist, sondern jeder erhobener Zustand dieses Organs dynamisch als vorübergehendes Stadium in einem ständigen Umbauprozess zu verstehen ist.
Fazit
Schon diese kurze Übersicht verdeutlicht, dass das biologische Geschlecht ein sehr komplexes und vielgestaltiges Phänomen darstellt und dessen angemessene Beschreibung und Erforschung nur durch einen aufwändigen Forschungsprozess überhaupt erfassbar ist. Es gibt weitere Betrachtungsweisen von biologischem Geschlecht, z.B. die komplizierte entwicklungsbiologische, also sequenzielle Betrachtung der Geschlechtsbestimmung im menschlichen Organismus von der befruchteten Eizelle bis zum erwachsenen Lebewesen. Die Erforschung des Geschlechts sollte aufgrund der Erkenntnis, dass sich lebende körperliche Materie in Abhängigkeit von ihrem Gebrauchs- und Reizkontext gestaltet, am besten immer fächerübergreifend stattfinden.
Kerstin Palm und Christoph-Rehmann Sutter
Zum Weiterlesen:
Anne Fausto-Sterling: Sex/Gender. Biology in a Social World. New York: Routledge 2012.
Jess F. McLaughlin et al.: Multivariate Models of Animal Sex: Breaking Binaries Leads to a Better Understanding of Ecology and Evolution. Integrative and Comparative Biology 63/4 (2023): 891–906. https://doi.org/10.1093/icb/icad027
The brain is increasingly conceived as an open biological system developing in mutual interchange with experiences (brain plasticity). Such embodying of the social contests the nature-nurture dichotomy as well as binary sex differences, and, instead, highlights the sex/gender development of brain-behaviour relations. In the transdisciplinary NeuroGenderings network, scholars from neurosciences, gender/queer and feminist science technology studies develop conceptual approaches to analyze the entangled biological, social, and cultural variables that constitute sexed/gendered brains whilst acknowledging their diversity.
Seit der Arbeitsaufnahme des Sonderforschungsbereichs „Sexdiversity“ im April 2024 an der Universität zu Lübeck sind bereits wichtige wissenschaftlichen Publikationen entstanden. Zum dem Jahreswechsel informieren wir hiermit über die Veröffentlichungen aus dem Jahr 2024.
The last installment of our Distinguished Lecture Series (DLS) by Staffan Müller-Wille (Cambridge) on Sex and Gender in the History of the Life Sciences from 12. December 2024 is now available on YouTube.
The DLS is organized by the Integrated Research Training Group (iRTG) of the Collaborative Research Center (CRC) 1665 “Sexdiversity”.
Der SFB ist in drei Projektgruppen gegliedert, die die vielfältigen Perspektiven auf den Forschungsgegenstand Geschlecht aufzeigen. Die Projektgruppen werden anhand von ausgewählten Teilprojekten folgend vorgestellt.