Inter- und Transdiziplinäre Perspektiven auf Körpergeschlecht
Der SFB 1665 bringt natur-, geistes-, und sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte zusammen, um das Körpergeschlecht der Menschen auf ganz unterschiedlichen Analyseebenen zu erforschen. Durch die Charakterisierung der Determinanten, Bedeutungen und Auswirkungen von Geschlecht auf jeder dieser Ebenen will der SFB das biologische Geschlecht bzw. Körpergeschlecht (englisch: sex) besser verstehen. Dabei geht die Forschungsperspektive über ein rein binäres Verständnis hinaus und folgt neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die zeigen, dass Geschlecht variantenreich ist und sich auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Kontexten unterschiedlich manifestieren kann.
Der SFB ist so organisiert, dass er sowohl interdisziplinäre Arbeit zwischen Biowissenschaften, Medizin und Geisteswissenschaften als auch transdisziplinäre Wissenschaft fördert. Interdisziplinarität bedeutet Forschungszusammenarbeit zwischen Disziplinen, um ein bestimmtes komplexes Problem aus verschiedenen Forschungsperspektiven umfassender anzugehen. Transdisziplinäre Forschung hingegen umfasst die Einbeziehung verschiedener Arten von Wissen über die Kluft zwischen Naturwissenschaften, Medizin und Geisteswissenschaften hinweg, um gemeinsam neue Erkenntnisse und Forschungsfragen zu entwickeln. Im Sinne partizipativer Forschung gehört dazu auch die konstruktive Einbeziehung von Interessenvertreter*innen und gesellschaftlichen Akteur*innen.
Der SFB ist in drei Projektgruppen gegliedert, die die vielfältigen Perspektiven auf den Forschungsgegenstand Geschlecht aufzeigen: M-Projekte widmen sich der Ebene der molekularen Faktoren sowie hormonellen und metabolischen Mechanismen; S-Projekte analysieren die systemischen Analyseebenen von Organsystemen bis hin zur Gesellschaft. Zusätzlich gibt es zentrale wissenschaftsunterstützende Z-Projekte, zu deren Aufgaben auch das Datenmanagement und die Wissenschaftskommunikation gehören. Die Projektgruppen werden anhand von ausgewählten Teilprojekten folgend vorgestellt.
M-Projekte: Biomedizinische Grundlagenforschung zum Körpergeschlecht auf Ebene der Moleküle, Gene und Hormone
Vielfach wird in biowissenschaftlichen und anderen Forschungskontexten von der Annahme ausgegangen, es existierten genau zwei biologische Geschlechter. In dieser Sichtweise spielen die Gameten (Eizellen und Spermien) sowie die Keimdrüsen eine zentrale Rolle. Geschlecht wird so allerdings auf die Reproduktionsfunktion reduziert. Die Projekte der M-Gruppe wollen den Blick auf andere Ebenen von Körpergeschlecht erweitern. Geschlecht wird also als ein Kontinuum von geschlechtsabhängigen und sich auch mit dem Alter verändernden Ausprägungen verstanden.
Die bisherige Forschung zur geschlechtsspezifischen Ausprägung von Genen und Hormonspiegeln hat nämlich gezeigt, dass Körpergeschlecht auf komplexe genetische, epigenetische, hormonelle und weitere Entwicklungsfaktoren und auch auf bislang noch ungeklärte Mechanismen zurückgeht. Die natur- und lebenswissenschaftlichenM-Projekte erforschen Körpergeschlecht deshalb mit einem offenen Ansatz. Dabei vermeiden sie eine essentialistische und trennende binäre Kategorisierung von Geschlecht.
Sie betrachten extragenitale Zellen und Organe mittels molekulargenetischer Methoden und weiterhin Menschen und Tiermodelle mit sogenannten Varianten der Geschlechtsentwicklung (kurz DSD – Differences of Sex Development). Diese Grundlagenforschung soll zu einem besseren Verständnis der Geschlechtsentwicklung und der Ausprägungen des Körpergeschlechts führen. Ziel ist es, dadurch die Grundlage für weitere Studien zu spezifischen geschlechtsbezogenen Unterschieden in Ursachen, Entstehung und Behandlung von Erkrankungen aller Menschen zu schaffen (Precision Health).
Projekt M08: Neue Erkenntnisse zur koronaren Herzkrankheit
Dr. Rédouane Aherrahrou leitet das Projekt M08 „Überwindung der Binarität des Geschlechts in genetischen Studien“, welches Geschlecht als Spektrum zwischen XX (weiblich) und XY (männlich) versteht. Ziel des Projekts ist es, geschlechtsspezifische genetische Risikofaktoren für die koronare Herzkrankheit zu erforschen. Das Projekt basiert auf dem Konzept des Sex Contextualism, entwickelt von Sarah S. Richardson. Dieser Ansatz schlägt eine neuartige Stratifizierung in geschlechtsbasierten genetischen Studien vor, bei der die Assoziation quantitativer Merkmale anstelle vorausgesetzter binärer Kategorien verwendet wird, um Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit zu identifizieren.
Durch das Verständnis von Geschlecht als Spektrum können genauere Diagnoseverfahren entwickelt werden, die auf individuelle genetische Profile abgestimmt sind. Darüber hinaus fördert dies personalisierte Therapieansätze, die geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen und weitere geschlechtsbezogene Gesundheitsfaktoren aufdecken.
Projekt M02: Grundlagenforschung zur frühkindlichen Gehirnentwicklung
Das Projekt M02 „Programmierung transkriptioneller Identität durch Östrogene und Androgene in sich entwickelnden menschlichen Gehirnzellen“, geleitet von PD Nadine Hornig (PhD) und Prof. Dr. med. Franz-Josef Müller, beschäftigt sich mit der Wirkung von Geschlechtschromosomen und Steroidhormonen auf die frühe menschliche Gehirnentwicklung. Hierzu werden menschliche induzierte pluripotente Stammzellen als Modellsystem verwendet, um geschlechtschromosomen- und steroidhormonabhängige Genexpressionsveränderungen zu beobachten.
Neuronen weisen geschlechtsabhängige Genexpressionsprofile auf, und Geschlechtsunterschiede sind bestimmende Merkmale von neurologischen Entwicklungsstörungen und neuropsychiatrischen Erkrankungen. Sowohl Androgen- als auch Östrogenrezeptoren lassen sich im sich entwickelnden menschlichen Gehirn zellspezifisch nachweisen.
Das Projekt M02 stellt die Hypothese auf, dass eine systematische Untersuchung der durch Steroidhormone induzierten Transkriptionsprogramme während der neuronalen Differenzierung in vitro Informationen darüber liefern wird, wieSteroidhormone die neuronale Entwicklung in vivo beeinflussen. Diese Informationen werden dazu beitragen, die Geschlechtervielfalt, verschiedene DSD-Bedingungen und geschlechtsspezifische neurologische Entwicklungsstörungen besser zu verstehen.
S-Projekte: Von den Mechanismen im Körper zu gesellschaftlichen Bedeutungen
Die S-Projekte widmen sich der Untersuchung systemischer Mechanismen und Beziehungen, die von der Ebene einzelner Organismen bis hin zu komplexen Gesellschaftsstrukturen reichen. Diese Forschungsprojekte blicken vom größeren Ganzen ins Kleinere und befassen sich beispielsweise mit der Interaktion zwischen Körpergeschlecht und bestimmten Erkrankungsformen, den Auswirkungen von Geschlechtervielfaltauf Verhalten und Wahrnehmung sowie damit verbundenen kulturellen und rechtlichen Kontexten.
Die S-Projekte verwenden biomedizinische, psychologische und neurowissenschaftliche Forschungsmethoden. Weiterhin nutzen die eher geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Teilprojekte Methoden der Wissenschafts- und Medizingeschichte sowie der kritischen Wissenschaftsforschung und Gender Studies. Sie historisieren das Verständnis von Geschlecht und analysieren Körpergeschlecht als Wissenskategorie und Aushandlungsort von Macht, der eng mit dem sozialen Geschlecht (gender) verwoben ist. Auch der biomedizinische Forschungsstand sowie die zugrundeliegende Wissensproduktion innerhalb des SFB werden in einer epistemischen Metaebene reflektiert.
Projekt S06: Science in Action im Labor und Wissensproduktion der Geschlechtsentwicklungsforschung
Diese Metaebene wird im Projekt S06 „Bringing gender into science – and back! Historical and ethnographic perspectives on sex development research” analysiert. Das Projekt wird von Dr. Birgit Stammberger und Prof. Heiko Stoff geleitet und geht den normativen Annahmen der Biowissenschaften im Hinblick auf das biologische Geschlecht nach. Denn solche Annahmen beeinflussen bis heute Methoden und Paradigmen der Lebenswissenschaften und blieben innerhalb dieser Disziplinen bislang wenig hinterfragt.
Im Fokus des historischen Teils des Projekts steht eine wissenschaftshistorische Analyse der endokrinologischen Forschung zur Geschlechtsentwicklung im 20. Jahrhundert und speziell im deutschsprachigen Raum zwischen 1950 und 1990. Die endokrinologischen Experimentalsysteme zur pränatalen Geschlechtsdifferenzierung sollen rekonstruiert werden, um konzeptionelle und epistemische Pfadabhängigkeiten zur aktuellen molekularbiologischen Geschlechtsentwicklungsforschung zu erkennen.
Das ethnographische Teilprojekt untersucht Wissensproduktionsprozesse zur Geschlechtsentwicklung in einem molekularbiologischen Labor aus geschlechtertheoretisch informierter Perspektive. Diese ethnographische Beobachtungsarbeit in einem konkreten Raum wird auch als Science in Action bezeichnet. Sie fragt, wie Wissen zu geschlechtlicher Differenz unter technologischen Bedingtheiten produziert wird. Die ethnographisch-historischen Perspektiven des Projekts stellen zudem den Ausgangspunkt für eine enge Kooperation mit dem molekularbiologischen Forschungsteam von M02 dar.
Das Projekt möchte reflexive Perspektiven im Dialog zwischen Molekularbiologie, Wissenschaftsgeschichte und Ethnographie stärken und Brücken zwischen den Disziplinen schlagen. Dabei soll ein umfassenderes Verständnis von Geschlecht entstehen.
Projekt S09: Medizingeschichte der Hormonpräparate in Westdeutschland und im globalen Maßstab
Das Projekt S09 „Medizinisches Geschlecht: Medizingeschichtliche Perspektiven auf Hormonpräparate, Patientenerfahrungen und die Wissenschaft und Praxis der Geschlechtervielfalt, ca. 1950–1990“, geleitet von Prof.in Dr. Birgit Nemec, untersucht die Geschichte von hormonellen Medikamenten und die damit verbundenen Annahmen über Geschlecht in Westdeutschland seit 1945.
Die medizinhistorische Studie fokussiert auf die wechselvolle Geschichte der Hormonpräparate, die sich in der Nachkriegszeit diversifizierten und weite Popularität erlangten. Das Projekt geht davon aus, dass die Medikamente und die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Debatten bewusste oder unbewusste Rollenbilder, Beziehungen und Bedeutungen von Geschlecht transportierten und sich Konzepte von Geschlecht nach 1945 dynamisch wandelten. Obwohl das Projekt schwerpunktmäßig die westdeutsche Entwicklung verfolgt, werden auch Bezüge zur globalen Pharmazie- und Geschlechtergeschichte hergestellt.
Durch die Betrachtung medizinischer und gesellschaftlicher Diskurse zum Geschlecht anhand von hormonellen Arzneimitteln wie beispielsweise Kortikosteroide, können neue Einsichten über das Zusammenwirken und die Beziehung zwischen Patient*innen und medizinischen Expert*innen sowie geschlechtsspezifischen Rollenbildern gewonnen werden.
Z-Projekte: Wissenschaft managen und Forschung kommunizieren
Die Z-Projekte unterstützen zentrale wissenschaftliche Aufgaben im Forschungsprogramm und sind das Bindeglied zwischen administrativem Bereich und praktischer Forschungsarbeit. Das zentrale Verwaltungsprojekt Z01 wird von den Sprechern des SFB geleitet und von Renate Wagner koordiniert. Es schafft die für das interdisziplinäre Forschungsprogramm wichtige administrative Infrastruktur.
Die Ordnung einer gemeinsamen Dateninfrastruktur und ein Datenrepositorium für die anfallenden Forschungsdaten sind Aufgabenbereiche im Projekt Z03, welches von Melina Schönknecht bearbeitet wird. Im Projekt Z02, koordiniert von Greta Ginski, geht es um den Zugang von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD) von der medizinischen Versorgung zur Forschung des SFB und zurück.
Das Projekt Z05 wird von Dr. Juliane Scholz koordiniert und zielt auf die Entwicklung einer strategischen Öffentlichkeitsarbeit und den Aufbau einer partizipativen vorwiegend digitalen Wissenschaftskommunikation. Weiterhin soll die Netzwerkbildung mit wichtigen Stakeholder*innen und der LGBTIQ+-Community angeregt werden. Das Projekt Z04 koordiniert das SFB-eigene Graduiertenkolleg (integrated Research Training Group, iRTG) an dem aktuell mehr als 20 Early Career Researcher promovieren. Henriette Mühlmann organisiert als verantwortliche Koordinatorin daneben die jährliche Summer School sowie die Distinguished Lecture Series (DLS) des SFB.
Recap: iRTG Summer School 2024 The integrated Research Training Group (iRTG) is an essential part of the Collaborative Research Center “Sexdiversity” (CRC 1665) and consists of currently of 22
The iRTG of the Collaborative Research Center (CRC) 1665 “Sexdiversity” would like to invite you to the upcoming public lecture of the Distinguished Lecturer Series (DLS) on Thursday, 12. December 2024, at 4 p.m.
The last CRC Distinguished Lecture with Melissa Hines on “Early androgen exposure and human gender development“ from October 17 2024 is now available on YouTube as online stream. https://www.youtube.com/watch?v=lJquskP89nA Teilen: Mehr
Am 1. November 2024 tritt das SBBG in Kraft. Anna Katharina Mangold ist Professorin, Juristin und Projektleiterin im SFB “Sexdiversity” und leitet dort das Projekt S05 “Normative Implikationen der Menschenrechte