Die einzelnen Forschungsprojekte des SFB „Sexdiversity“ forschen zwar zu verschiedenen Themen und kommen aus unterschiedlichen Disziplinen – von Medizin und Molekulargenetik über Neurowissenschaften bis hin zu Wissenschaftsgeschichte. Aber sie eint eine gemeinsame Perspektive: Alle Projekte forschen auf Grundlage des sogenannten „Sex Contextualism“, also eines kontextuellen Konzepts von Körpergeschlecht.
Was versteht man unter dem Ansatz „Sex Contextualism“?
„Sex Contextualism“ ist ein Ansatz der Wissenschaftsphilosophin Sarah Richardson, die an der Harvard University in den USA forscht und lehrt. Richardson beschäftigt sich mit der wichtigen Forderung, Geschlecht als Variable in alle biomedizinischen Untersuchungen einzuschließen. Diese Forderung wird unter anderem von der Gendermedizin vertreten – und zwar aus gutem Grund: Zentrale medizinische Erkenntnisse basieren noch immer häufig auf Studien, die nur männliche Versuchspersonen berücksichtigen. Doch viele Erkrankungen, wie zum Beispiel der Herzinfarkt, zeigen bei Frauen oft andere Symptome als bei Männern. Und auch bestimmte Therapien – von Herzmedikamenten bis hin zu Immuntherapien bei Krebs – haben bei Männern durchschnittlich eine andere Wirkung als bei Frauen. Deswegen kann es Leben retten, wenn Geschlecht in der Forschung zu körperlichen Prozessen oder bei der Entwicklung von Medikamenten mit berücksichtigt wird.
Richardson sagt, diese Berücksichtigung von Geschlecht ist gut – aber in der Umsetzung noch nicht gut genug. Sie kritisiert, dass die Operationalisierung (also die Messbarmachung) von Körpergeschlecht in vielen Studien bislang zu ungenau ist. Denn die meisten Studien operationalisieren Geschlecht standardmäßig binär, also als Variable mit den zwei Ausprägungen männlich und weiblich. In einer Studie zu Herzmedikamenten würden z.B. folglich nur „Mann“ und „Frau“ unterschieden.
Warum ist Binarität in medizinischen Studien ein Problem?
Bei manchen wissenschaftlichen Fragestellungen ist eine binäre Aufteilung kein Problem. Zum Beispiel kann sie sinnvoll sein, wenn man reproduktive Prozesse untersucht. Bei vielen anderen Fragestellungen wird sie jedoch durchaus zum Problem. Durch eine standardmäßige binäre Operationalisierung von Geschlecht gehen wichtige Daten verloren und es wird nicht allen Menschen Genüge getan.
Das Problem zeigt sich am Beispiel von Steroidhormonen, also sogenannten Geschlechtshormonen wie Testosteron oder Östrogen. Diese Hormone können mit vielen Medikamentenwirkungen interagieren. Im Durchschnitt unterscheidet sich die Konzentration der verschiedenen Steroidhormone zwar zwischen Männern und Frauen, aber über den Lauf eines Lebens verändern sich die Hormonspiegel bei allen Menschen sehr stark. Innerhalb einer Person kommt es also zu Veränderungen – sei es etwa durch Prozesse wie Pubertät oder Menopause, aber auch durch Gewichtsveränderungen, sportliche Aktivität oder sei es durch veränderte Lebensumstände, etwa durch die Einnahme hormoneller Medikation, z.B. oraler Kontrazeption oder Hormontherapien bei Krebserkrankungen. Auch Menschen, die sich einer Geschlechtsangleichung unterziehen, erhalten oft Hormonbehandlungen.
Durch diese Heterogenität und Wechselhaftigkeit ist eine reine Aufteilung nach männlich und weiblich nicht sinnvoll, wenn man einen Einfluss von Hormonen auf die Medikamentenwirkung vermutet. Einer 70-jährigen Patientin, die ein Herzmedikament erhalten soll, helfen geschlechtsspezifische Daten zur Medikamentenwirkung unter Umständen wenig, wenn diese vor allem an 25-jährigen Frauen erhoben wurden. Hier wäre es genauer, in Studien mehrere und spezifischere Kategorien zu verwenden, die etwa nach Alter und/oder Hormonspiegel definiert werden.
Darüber hinaus entsteht durch eine standardmäßige Kategorisierung von Körpern in zwei Großgruppen eine weitere Herausforderung: Intergeschlechtliche Menschen bzw. Menschen, die mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (englisch: DSD für differences of sex development) geboren wurden, lassen sich in einer rein binären Klassifikation nicht klar zuordnen. Hier kann z.B. der Hormonspiegel einer Person sowohl von der männlichen als auch der weiblichen Referenzgruppe abweichen. Zudem sind bei vielen Varianten der Geschlechtsentwicklung die hormonellen, chromosomalen und physiologischen Ursachen noch gar nicht geklärt, ebenso wie mögliche körperliche Folgen. Auch deswegen fanden in der Vergangenheit oft medizinische Fehlbehandlungen von intergeschlechtlichen Menschen und Menschen mit DSD statt. Die Situation dieser Menschen muss in biomedizinischen Studien berücksichtig werden, um eine bessere Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten.
All diese Gründen sprechen für eine kontextuelle Operationalisierung von Körpergeschlecht in biomedizinischer Forschung: Je nach Kontext – also etwa Forschungsthema, Anwendungszweck, Fragestellung und Untersuchungsmaterial – kann es passend sein, die Variable Geschlecht diverser zu definieren, also in z.B. zwei, fünf, sechs oder noch mehr Kategorien aufzuteilen oder als Kontinuum zu operationalisieren.
Fehlerhafte Verallgemeinerung von Merkmalsvielfalt
Der Ansatz des „Sex Contextualism“ hilft jedoch auch, ein weiteres Problem zu vermeiden, das oft bei der Forschung zu Geschlecht auftritt – nämlich, dass Studienergebnisse zu sehr verallgemeinert werden. Hinter solchen Fehlschlüssen steckt oft eine festgefügte Vorstellung von Geschlecht, die neue Erkenntnisse zu Merkmalsvielfalt nicht berücksichtigt. Auch verstellen solche Vorstellungen den Blick auf die Verschiedenheit der disziplinären Perspektiven und Versuchsanordnungen, so dass alle Tierarten, Körper und auch kulturelle und soziale Bedingungen über einen Kamm geschoren werden. Das führt zur Fehlinterpretation von Daten.
Ein Beispiel für solch einen Fehler nennt Sarah Richardson selbst in ihrem Artikel: Aus einer Studie zur Geschlechtsentwicklung bei Fadenwürmern wurde auf analoge Prozesse in der menschlichen Pubertät geschlossen – obwohl die beiden Organismen keineswegs vergleichbar sind. Denn die Presseerklärung zu der 2019 veröffentlichten Studie verkündete, dass diese die unterschiedlichen Geschlechtsentwicklungen von männlichen und weiblichen Gehirnen aufgeklärt habe. Bebildert wurde die Erklärung mit einem halb rosa und halb blau eingefärbten menschlichen Gehirn. Der Pressetext legte nahe, dass Erkenntnisse über genetisch und neuronal verankerte Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen gefunden wurden. Dabei übersah die Erklärung aber, dass die Fadenwürmer, die in der eigentlichen Studie untersucht wurden (die Art Caenorhabditis elegans), zwar in zwei Körpergeschlechter eingeteilt werden. Es handelt sich aber um Männchen und sogenannte Hermaphroditen (die sowohl Spermien als auch Eizellen produzieren und sich selbst befruchten können). Männliche Fadenwürmer dieser Art sind sehr selten und machen nur ca. 0,3 Prozent der Population aus. Auch sind bei der Geschlechtsentwicklung des Fadenwurms ganz andere Gene beteiligt als beim Menschen. Hier handelt es sich also klar um eine Fehlinterpretation der Studienergebnisse und eine zu große Verallgemeinerung in der Presseerklärung.
Das kontextuelle Modell von Geschlecht hilft, solche universalistischen Fehlschlüsse zu verhindern. Denn es macht erforderlich, in der Forschung genau zu überlegen, was der Kontext der Fragestellung zu Geschlecht ist, die untersucht werden soll, wie Geschlecht gemessen wird, welches Material genutzt wird und was das Ziel der Studie ist. Das Modell führt so zu klareren Definitionen und einer differenzierteren Forschung.
Genau das beabsichtigen wir mit unserem SFB, bei dem eine sorgfältige und genaue Erforschung von Körpergeschlecht im Zentrum steht. Dabei geht es uns über alle Projekte hinweg darum, die Bedeutung von Geschlecht auf den unterschiedlichsten Ebenen (von Zelle über Organ hin zu Organismus und gesellschaftlichen Strukturen) zu untersuchen und stets den Kontext mit zu berücksichtigen. Zudem tragen einige der geistes- und sozialwissenschaftlichen Projekte zu einer genaueren Reflexion des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts bei, während manche naturwissenschaftliche und medizinische Projekte mit den modernsten Methoden körperliche Prozesse in unterschiedlichen materiellen Kontexten erforschen. Auf diese Weise wollen wir innovative Grundlagenforschung entwickeln, die die Pluralität von Geschlecht berücksichtigt und eine bessere medizinische Behandlung für alle Menschen ermöglicht.
Lisa Malich